Von Jürgen Fritz, Do. 11. Nov 2021, Titelbild: Amelinda Kessenich
Am Marxismus wurde viel Kritik geübt. Zurecht. Karl Popper zeigte, dass es sich beim „wissenschaftlichen Sozialismus“ um eine Pseudowissenschaft handelt, die nicht falsifizierbar ist und deren „Ideologiekritik“ sich selbst gegen Kritik immunisiert, dass die marxistische Denke in eine geistig geschlossene, totalitäre Gesellschaft führe. Die marxistische Wirtschaftsanalyse erwies sich als irrelevante Sackgasse usw. usf. Doch wie steht es um das marxistische Menschenbild?
Kollektivismus statt Achtung des Individuums in seiner unantastbaren Würde
Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz schreibt dazu: „Das Menschenbild des Marxismus ist ein grundlegend anderes als das freiheitlicher Demokratien. Im Mittelpunkt steht hier nicht das Individuum in seiner unantastbaren Würde, sondern das Kollektiv – die Klasse der Proletarier.“
Was also im Nationalsozialismus beziehungsweise besser: im Hitlerismus das Volk respektive „die Rasse“ ist, das ist im Marxismus die Klasse und im „Islamismus“, genauer: im orthodoxen Islam die Umma, die Summe der „echten Muslime“, also der orthodoxen und radikalen Moslems, die sich völlig zurecht auf a) den Koran, die sogenannte „heiligen Schrift“ des Islam, beziehen, sowie b) auf die Sunna (Hadithe: Aussprüche und Handlungen Mohammeds, die als absolut vorbildlich und nachahmenswert angesehen werden), c) die Scharia und d) auf die Rechtsgutachten der führenden islamischen Rechtsgelehrten.

(c) JFB
Allen, die nicht zur „richtigen“ Gruppe gehören, werden die universalen Menschenrechte nach Belieben abgesprochen
In all diesen Weltanschauungen gibt es immer eine Gruppe von Menschen, die über alle anderen erhoben wird und zwar allein auf Grund der Zugehörigkeit zu dieser bestimmten Gruppe, völlig unabhängig von inneren, menschlichen, moralischen und charakterlichen Qualitäten. Die auserwählten Gruppen werden hierbei unterschiedlich definiert, einmal primär biologisch über die Zugehörigkeit zu einer Ethnie, einem Volk, einer „Rasse“ oder was auch immer, das andere mal über die Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Klasse und im dritten Fall über die Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft, die eine gemeinsame metaphysisch spekulative Weltanschauung teilt, welche einen absoluten Geltungs- und zugleich Führungsanspruch erhebt, der zu drastischen Konsequenzen auch im irdischen Leben führt, nicht erst im spekulativ angenommenen Jenseits.
Diese Begriffe sind hierbei aus der Innenperspektive der jeweiligen Weltanschauung zu verstehen, nicht aus der neutralen Außenperspektive. Wenn es objektiv keine Rassen, keine teleologische Entwicklung der Geschichte auf ein spekulativ angenommenes Endziel hin gibt und wenn es keinen Allah gibt, so hindert das viele Millionen Menschen ja nicht daran, gleichwohl daran zu glauben. Wir müssen also immer unterscheiden: a) Beschreibung der Wirklichkeit und b) die Beschreibung der Weltsicht, wie Anhänger bestimmter Weltanschauungen sich die Wirklichkeit vorstellen.
In all diesen Weltanschauungen oder Ideologien werden – und das ist eine der essentiellen Gemeinsamkeiten – anderen die universalen Menschenrechte abgesprochen. Deswegen sind alle diese Ideologien im Bild oben auf einer Ebene und zwar alle unterhalb der freiheitlich-demokratischen, aufgeklärten Gesellschaft, wie sie in unserem Grundgesetz verankert ist. Denn alle diese antiliberalen Ideologien gestehen allen anderen nicht die gleichen Rechte zu und dies aus einem einzigen Grund: weil sie nicht zu der jeweils auserwählten Gruppe gehören: 1. dem „richtigen Volk“ respektive der „richtigen Rasse“, 2. der „richtigen Klasse“, 3. der „richtigen Glaubensgemeinschaft“ in Bezug auf ein metaphysisch spekulatives, nicht verifizierbares Weltbild, wobei die Begriffe wie erläutert immer aus der Innenperspektive der jeweiligen Ideologie zu verstehen sind, nicht aus der hier vertretenen analytischen Außenperspektive. Um aber die jeweilige Weltanschauung zu verstehen, muss zeitweise quasi in sie hineingetaucht werden.
Neomarxisten ersetzen die Proletarier durch andere Gruppen, da jene die bürgerliche Ordnung nicht stürzen, sondern einfach dazu gehören wollen
Bei Neomarxisten (postmoderne Kulturmarxisten), die sich von den Arbeitern abgewandt haben, nachdem diese sich dergestalt als „unfähig“ erwiesen haben, dass sie nicht die Rolle angenommen haben, welche die Marxisten ihnen zugedacht hatten: die Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft komplett zu stürzen, so dass die Neomarxisten sich neue Revolutionssubjekte suchen mussten, sind es nun andere Klassen, andere Gruppen, die über andere erhoben werden: Frauen, Homosexuelle, Trans-Personen, Schwarze, „People of Colour“ (PoC, alle, die nicht „weiß“ sind), Muslime, die ihnen meist lieber sind als Juden, Migranten aus bestimmten Kulturkreisen usw., sofern diese sich über die Zugehörigkeit zu einer dieser Gruppen definieren und nicht als freies, mit gleichen Rechten wie alle anderen ausgestattetes und mit Würde ausgestattetes Wesen.
Von den Arbeitern (Proletariern) hat man sich also weitgehend verabschiedet, da diese mehrheitlich gar nicht die bürgerliche Ordnung und die freie Marktwirtschaft komplett stürzen wollten, sondern einfach nur ein respektierter Teil des Ganzen sein wollten. Ergo brauchte man neue Revolutionssubjekte und die produziert man nun regelrecht am Fließband, da man immer neuen Gruppen einreden kann, sie würden systematisch benachteiligt und unterdrückt und jetzt sei es höchste Zeit, sich dagegen zu wehren und die Ordnung von Grund auf umzukrempeln.
Wichtig ist also, dass man immer neue Klassen von Menschen bildet, die sich dann primär über eben diese Klassenzugehörigkeit definieren sollen und nicht über ihr allgemeines Mensch-sein. Das heißt, die Gesellschaft soll ständig gespalten und in immer neue Klassenkämpfe getrieben werden. Denn die Geschichte ist ja laut Marx ein ewiger Kampf der Klassen, bis endlich der Kommunismus nach einer Übergangsphase der Diktatur all diese Kämpfe für immer beendet.
Marxisten negieren die universalen Menschenrechte, wollen im Kampf gegen die „Klassenfeinde“ neue Privilegien einführen
Der bayerische Verfassungsschutz schreibt weiter: „Erst als Mitglied dieser Klasse entwickelt der Mensch dem Marxismus zufolge seine Würde.“ Wo aber bleibt dann die Würde derer, die nicht zu dieser auserwählten Klasse gehören? Der Bezugspunkt des Wertes des Einzelnen ist in der marxistisch-sozialistischen Weltanschauung also nicht das Mensch-sein an sich, womit alle eingeschlossen wären, sondern Bezugspunkt der Würde ist die Klasse der Proletarier, bei den Neomarxisten die Gruppe der Frauen, der Homosexuellen, der Trans-Personen, der Schwarzen, der PoC, der Migranten usw. (im Hitlerismus ist der Bezugspunkt die Zugehörigkeit zum Volk oder „zur Rasse“, im orthodoxen Islam die Zugehörigkeit zur Umma).
Damit werden der moralische Universalismus und die universalen Menschenrechte negiert und es werden neue Privilegien für bestimmte Klassen von Menschen eingeführt, die permanent gegen die „Klassenfeinde“ aufgehetzt werden, die als Sündenböcke für jedes eigene Versagen fungieren, um so der kritischen Selbstreflexion und der Eigenverantwortung auszuweichen.
Und nochmals das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz: „Unveränderliche, vorstaatliche Grund- und Menschenrechte existieren demnach (im Marxismus, JF) nicht. Alles wird dem Ziel unterworfen, dem als notwendig erkannten Geschichtsverlauf hin zum Kommunismus zum Sieg zu verhelfen.“
Der Zweck heiligt die Mittel: teleologisches Geschichtsbild + teleologische Ethik
Dafür ist man notfalls bereit, über Leichen zu gehen, auch über Millionen Leichen (siehe Stalin, Mao und viele andere), um eine Gesellschaft zu errichten, wie man sie sich wünscht, wie man sie am Reißbrett entwirft, aber noch niemals auf der Erde in einer größeren Gruppe erschaffen konnte. Das Ganze basiert hierbei nicht auf einem tugendethischen Ansatz, wie bei Sokrates oder Aristoteles, auch Jesus von Nazareth, also dem sich Widmen der eigenen Seele, dem eigenen Charakter, dem eigenen Innern, dem eigenen Seelenheil, und – anders als die Menschenrechte und unser Grundgesetz – auch nicht auf einem deontologischen, kantianischen, sondern auf einem teleologischen Ethik-Ansatz: Der Zweck (griech. telos) heiligt die Mittel. Alle Mittel. Auch zahllose Opfer. Auch zahllose Menschenrechtsverletzungen.
Teleologische Ethik ist hierbei nicht mit einem teleologischen Geschichtsbild oder einer Naturteleologie zu verwechseln. Bei letzteren beiden wird angenommen, dass die gesamte Menschheits- oder sogar die gesamte Naturgeschichte auf ein Endziel zulaufe. Dies ist also gleichsam eine Beschreibung eines angenommenen Seins, einer angenommenen Entwicklung der Welt, ohne dass dies automatisch bewertet und das Endziel als positiv ausgezeichnet würde. Anders dagegen in der teleologischen Ethik. Hier wird nicht einfach die Wirklichkeit richtig oder falsch beschrieben wie im teleologischen Geschichtsbild, sondern es wird explizit die Frage nach dem Guten gestellt. Hier geht es also nicht rein um das Sein der Welt, sondern um die Frage des Sein-Sollens, um ein Werturteil. Und es wird nicht einfach ein Ziel genannt, auf das alles zuläuft, sondern es gibt ein angestrebtes Endziel.
Marxisten gehen also einen Schritt weiter, sie sagen nicht nur, der Kommunismus sei das Endziel der geschichtlichen Entwicklung, so wie Physiker sagen, der Wärmetod der Welt sei das logische Endziel, weil die Entropie stets zunehme, sondern die Marxisten bewerten dieses Endziel, dieses telos, als positiv und definieren genau darüber das Gute und ihre Moral. Alles, was die Menschheit diesem Endzweck näher bringt, ist dabei als gut definiert, auch das massenweise Morden oder das massenweise Menschen opfern.
Die Menschenrechts-Feindlichkeit des Marxismus
Insofern gibt es strenggenommen gar keine Verletzungen der universalen Menschenrechte im Marxismus, weil es solche Rechte in der marxistischen Ideologie gar nicht gibt, da der moralische Universalismus abgelehnt wird. Die „Klassenfeinde“ haben keine unantastbare Würde und Menschenrechte. Mit ihnen kann alles Mögliche gemacht werden, sofern es der angestrebten Veränderung der Gesellschaft dient. Es gibt nur das Ziel (telos), der präferierten Klasse zur Macht zu verhelfen (Diktatur des Proletariats bzw. der jeweiligen auserwählten Gruppe), um dann in der letzten Stufe mit aller Gewalt eine kommunistische, klassenlose Gesellschaft zu errichten, was man getrost als ein reines Hirngespinst betrachten darf, ein solches Hirngespinst aber, in dessen Namen bereits zig Millionen Menschen gemordet und hunderte Millionen fürchterlich unterdrückt wurden und werden.
Siehe dazu auch, was der große französische Intellektuelle Jean-Paul Satre, der sich allmählich dem (Neo)Marxismus zuwandte und der in Frankreich, aber auch weit darüber hinaus enormen Einfluss hatte, 1961 im Vorwort zu Frantz Fanons: Die Verdammten dieser Erde (die Bibel des Antikolonialismus) schrieb:
„Denn in der ersten Zeit des Aufstands muß getötet werden: Einen Europäer erschlagen heißt zwei Fliegen auf einmal treffen, nämlich gleichzeitig einen Unterdrücker und einen Unterdrückten aus der Welt schaffen. Was übrigbleibt, ist ein toter Mensch und ein freier Mensch.“
Wenn Neomarxisten das Wort „Menschenrechte“ in den Mund nehmen, dann tun sie dies immer in einem ideologisch-instrumentellen Sinne, dergestalt sie diese Errungenschaft der Aufklärung und des Liberalismus immer dann benutzen, wenn ihnen das als Hebel dienen kann, um ihre Ideologie durchzusetzen. Sobald aber die universalen Menschenrechte diesem Ziel im Wege sind, sind sie sofort schlagartig vergessen und werden immer erst der jeweils auserwählten Klasse oder Gruppe zugestanden, allen anderen aber nach Belieben und Gutdünken zugestanden oder entzogen, wenn es dem übergeordneten Ziel dienlich ist. Das aber ist eindeutig menschenrechtswidrig, grundgesetzwidrig, verfassungswidrig.
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