Von Jürgen Fritz, Sa. 24. Feb 2024, Titelbild: Duden-Screenshot
„Alles was uns imponieren soll, muß Charakter haben.“ (Johann Wolfgang von Goethe) „Wo Charakter ist, wird häßlich schön. Wo kein Charakter ist, wird schön häßlich.“ (Aus dem Sudan) Charakter scheint irgendetwas mit Schönheit zu tun zu haben, aber was genau? Und wie hängen Charakter und Moral zusammen?
Der Charakter eines Menschen wird bestimmt durch seine persönliche Moral
Charakter ist das, was vom Menschen übrig bleibt, wenn es unbequem wird, sagt man bisweilen. Der deutsche Pädagoge und Philosoph Johann Friedrich Herbart (1776-1841) beschrieb Charakter als innere Festigkeit. Offensichtlich geht es also um etwas Inneres, was von außen nicht sofort auf einen Blick zu erfassen ist, was sich aber doch irgendwie zeigt, wenn man einen Menschen mit der Zeit besser kennenlernt, sich darin zeigt, wie er sich in bestimmten Situationen, zum Beispiel wenn es unbequem wird, verhält, genauer: wie er dann handelt. Und offenbar verändert sich dann auch unser Blick auf diesen Menschen, wenn wir das mit der Zeit sehen, wie er sich in bestimmten Situationen verhält, wie er dann agiert, wie er dann handelt, wie der sudanesische Aphorismus andeutet. Aber betrachten wir das Ganze etwas genauer.
Der Charakter (aus altgriech. χαρακτήρ = charaktér = Prägestempel) eines Menschen wird maßgeblich bestimmt durch seine persönliche Moral, durch seine Vorstellungen von gut und böse, richtig und falsch, seine Wertvorstellungen und Werthaltungen, seine Gesinnung und seine Disziplin, seine Konsequenz, sich in seinem Handeln an diese Vorstellungen und Handlungsgrundsätze (Maximen) zu halten oder wie Immanuel Kant (1724-1804) es ganz kurz und prägnant, maximal verdichtet formulierte: Charakter ist die „praktische konsequente Denkungsart nach unveränderlichen Maximen“. Rechtes Handeln folge nämlich dem rechten Denken, konstatierte bereits Sokrates (469-399 v.u.Z.). Näheres zum Moral- und zum Ethik-Begriff, das sind übrigens zwei verschiedene Dinge, siehe hier: Ethik: ein Überblick.
Charakter erfordert Impulskontrolle und die Fähigkeit, Belohnung aufzuschieben oder im Extremfall diese völlig zu suspendieren, weil etwas nur deshalb getan werden muss, weil es richtig im Sinne von moralisch gut ist, ohne dass man durch das Tun des Richtigen irgendeinen persönlichen Vorteil hätte außer dem der Wahrung der Selbstachtung respektive im Extremfall dem Nichtverlieren dieser. Wenn jemand sein eigene Existenz um der richtigen Sache willen opfert (Beispiel Sokrates oder die Geschwister Scholl und die Weiße Rose, vielleicht auch Nawalny), dann wahrt er ja nicht einmal seine Selbstachtung, weil er gar nicht mehr ist, aber er verliert seine Selbstachtung zumindest nicht.
Charakter ist quasi innere Schönheit, das Vorhandensein von bestimmten Tugenden (erstrebenswerte Charakterzüge)
Charakter könnte man auch beschreiben als die innere Schönheit eines Menschen (oder innere Hässlichkeit oder etwas dazwischen). Aristoteles beschrieb den Charakter über Tugenden (von mittelhochdeutsch tugent = Kraft, Macht, [gute] Eigenschaft, Fertigkeit, Vorzüglichkeit; lateinisch virtus; altgriech. ἀρετή = aretḗ). Tugenden sind erstrebenswerte Charaktereigenschaften, die eine Person befähigen, das sittlich Gute zu verwirklichen. Platon (427-347 v.u.Z.), Sokrates‘ bedeutendster Schüler und vielleicht wichtigster Denker des Abendlandes, nannte vier Kardinaltugenden, die sich aus seiner Seelenlehre mit ihren drei Seelenteilen ergeben:
- Weisheit (sophia) als Tugend des oberen Seelenteils (to logistikon, Vernunft),
- die Tapferkeit (andreia) als Tugend des mittleren Seelenteils (thymoeides, das Mutartige),
- die Besonnenheit (sophrosyne) als Tugend des unteren Seelenteils (Epithymetikon, das Begehrungsvermögen) und
- die (innere) Gerechtigkeit (dikaiosyne) eines Menschen, die darin besteht, dass die drei Seelenteile alle drei gut und stark entwickelt sind und in einem solchen Verhältnis zueinander stehen, dass ein harmonisches Ganzes, mithin ein schöner Charakter entsteht.
Platon, der hier sehr viel tiefer denkt als so manch andere, gerade auch heute, führt die Gerechtigkeit einer Gesellschaft mithin auf die innere Gerechtigkeit der einzelnen Menschen in dieser Gesellschaft zurück. In diesen einzelnen Personen ist die Gerechtigkeit der Gesellschaft allererst fundiert. Daher nutzt die beste Verfassung und nutzen die besten Gesetze nichts, wenn die Menschen dieser Gesellschaft das nicht in ihrem Innern tragen, siehe den Untergang der Weimarer Republik trotz großartiger Verfassung und siehe die zunehmenden Probleme heute. Eine freiheitliche, menschenrechtsbasierte Demokratie ohne freiheitliche, menschenrechtsachtende Demokraten kann und wird auf Dauer nicht funktionieren. Siehe dazu auch das berühmte Böckenförde-Diktum: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“
Die Bedeutung der Erziehung und das Problem der Massenimmigration aus anderen Kulturkreisen
Deshalb kommt der Erziehung eine Schlüsselrolle zu und deshalb ist die Massenimmigration aus anderen Kulturkreisen mit völlig anderer Geistesgeschichte, völlig anderen Moralvorstellungen und einem völlig anderen Menschenbild so problematisch, weil die Erziehung und Sozialisation, die Charakterbildung vielfach schon weitgehend abgeschlossen ist und eine völlig andere war, weil diese Menschen nicht von uns zu freiheitlichen, menschenrechtsachtenden Demokraten und Staatsbürgern erzogen wurden, was übrigens das mit Abstand Anspruchsvollste ist, was die Menschheit bislang zustande brachte und was bisher nur in Europa, Nordamerika, Australien und einigen Ländern in Ostasien (Japan, Südkorea …) gelang und auch da nie bei allen Menschen.
Und wir wissen heute nicht, ob die freiheitliche, menschenrechtsbasierte Demokratie bei uns von Dauer oder historisch nur eine kurze Zwischenphase sein wird. Um diese Problematik der Massenimmigration und der Folge der gesellschaftlichen Erosion des inneren Zusammenhalts wusste übrigens schon Aristoteles vor mehr als 2.300 Jahren.
Aristoteles‘ Tugendlehre und der Sinn unseres Lebens
Aristoteles (384-322 v.u.Z.), Platons bedeutendster Schüler, der zweite ganz große Denker der Antike und Begründer vieler wissenschaftlicher Disziplinen, entwickelte Platons Tugendlehre in seiner berühmten Nikomachischen Ethik, dem wichtigsten moralphilosophischen Werk über Jahrtausende, weiter. Für ihn ist Tugend der Weg zur εὐδαιμονία = eudaimonía = Glückseligkeit. Eudaimonia meint hier aber nicht das subjektive Glücksgefühl oder die Gesamtsumme, die Gesamtbilanz der Glücksgefühle, sondern meint das gute, das geglückte Leben. Gutes Leben nicht im Sinne eines maximal angenehmen solchen als eine endlose Kette von Genüssen und Glücksgefühlen, sondern in dem Sinne was einen guten, einen wertvollen Menschen ausmacht. „Wir philosophieren nicht, um zu erfahren, was ethische Werthaftigkeit sei, sondern um wertvolle Menschen zu werden“, schreibt er in seiner Nikomachischen Ethik.
Bezugspunkt sind also nicht die Gefühle, sondern das innere Sein, der Charakter und das Handeln, welches aus diesem inneren Sein entspringt, die Lebensführung und Lebensbewältigung, die Lebensgestaltung. Das Leben glückt nach Aristoteles in diesem Sinne dann, wenn der Mensch die Möglichkeiten, die in ihm angelegt sind, verwirklicht (Entelechie), wenn er also zu dem wird, der er sein kann und sein soll.
Entelechie bedeutet, dass etwas sein Ziel (τέλος = telos) in sich selbst trägt. Der Mensch ist nach Aristoteles also kein bloßes Mittel zum Zweck – um einen Gott anzubeten und ihm zu dienen oder dessen Wille zu vollstrecken -, kein Knecht eines höheren Wesens, sondern er ist etwas, das sein telos, sein Ziel in sich selbst immer schon trägt und dieses Ziel ist ein aktives Leben zu führen, in dem sich die inneren Anlagen entfalten und entwickeln können, als Person zu wachsen und die Gesellschaft mit zu gestalten und zwar so mitzugestalten, dass die Gesellschaft wiederum dem Einzelnen die Voraussetzungen schafft, dass er das, was in ihm angelegt ist, entwickeln kann. Glücksgefühle stellen sich dann nicht als angestrebtes Ziel, sondern quasi als Nebenprodukt ein, sind aber nicht das Entscheidende, sind nicht das Intendierte.
Menschenwürde als innere, seelische Eigenschaft, die uns als Mensch gerade ausmacht und daher zu achten ist
Auch wenn die alten Griechen den Begriff der Menschenwürde nicht explizit kannten oder entwickelten, so klingt der Kerngedanke der Menschenwürde, den Immanuel Kant (1724-1804) im Anschluss an Cicero (106-43 v.u.Z.), verschiedene christliche Denker, Giovanni Pico della Mirandola (1463-1494) und Samuel von Pufendorf (1632-1694) dann ganz explizit als die Fähigkeit zur Selbstbestimmung oder Selbstgesetzgebung entwickelt, hier doch bereits an, nämlich in der Seelenlehre von Sokrates, Platon und Aristoteles. Die Seele ist hierbei sogar etwas noch Fundamentaleres als die Menschenwürde als nicht-körperliche, unveränderliche, innere, allen Menschen zukommende Eigenschaft. Sie ist die nicht-körperliche, innere, allen Menschen zukommende Substanz selbst, die diese Eigenschaft, über sich selbst bestimmen zu können, aufweist.
Und für Sokrates, Platon und Aristoteles war die Seele und deren Wohl, insbesondere Selbsterkenntnis, das Entscheidende. Nur vor diesem Hintergrund ist die berühmte Auffassung des Sokrates und Platon zu verstehen, dass es besser sei, von anderen Unrecht zu erleiden, als selbst Unrecht zu tun. Denn wer Unrecht von anderen erleidet, nimmt zwar Schaden an äußeren Gütern, wer aber selbst Unrecht tut, der schädigt seine eigene Seele, sein eigenes Inneres, seinen Charakter, was das Wesentliche und viel Wertvollere sei. Implizit steckt hier also die Achtung vor der Menschenwürde des anderen als innere Eigenschaft respektive die Achtung vor der Seele als die innere Substanz, welche diese Eigenschaft aufweist, bereits drin.
„Werde, der du bist“
Sokrates und Platon glaubten übrigens noch an die Unsterblichkeit der Seele und Platon lieferte hierfür fünf Beweise oder Argumente, die zwar wunderschön und lehrreich, aber alle fünf fehlerhaft sind, während Aristoteles, literarisch weniger brillant als Platon, aber vielleicht noch scharfsinniger, bereits nicht mehr an die Unsterblichkeit der Seele glaubte, sondern diese untrennbar an lebende Materie gekoppelt sah. Das ist aber letztlich nicht entscheidend für die hier entwickelten Gedanken, die für beide Fälle Gültigkeit beanspruchen, mithin von dieser Frage unabhängig sind. Denn diese innere Zielverwirklichung, zu dem zu werden, der man sein kann, dies könnte man in beiden Fällen, ob sterblich oder unsterblich, gleichsam als eine Sinndimension unserer Existenz auffassen.
Nach meiner persönlichen Analyse wäre dies eine von drei – formal für alle Menschen gleichen, inhaltlich aber für jeden individuelle – Teilantworten auf die Frage nach dem Sinn unseres je eigenen persönlichen Lebens, von Friedrich Nietzsche (1844-1900) ganz kurz und prägnant gefasst als: „Werde, der du bist.“
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