Von Jürgen Fritz, Fr. 01. Jan 2021, Titelbild: YouTube-Screenshot
Jedes Wissen stellt zunächst einmal ein Glauben, dass etwas der Fall ist, dar, ist mithin ein Für-wahr-Halten. Ebenso stellt aber auch jede Fehlvorstellung ein Für-wahr-Halten dar, ein Glauben oder Meinen, dass etwas der Fall ist. Was unterscheidet dann das Wissen vom fälschlichen Meinen oder Glauben? Welche Rolle spielen hier das Vertrauen und die Wissenschaft? Und warum sind Scharlatane so schädlich?
Wissen impliziert im Gegensatz zu Fehlvorstellungen Wahrheit
Wenn also Wissen ein Glauben, dass etwas der Fall ist, darstellt, jede Fehlvorstellung aber ebenso, was ist dann der Unterschied zwischen beidem? Nun einmal ist die Vorstellung richtig respektive wahr, das andere mal ist sie falsch. Wer meint, Deutschland hätte nur 50.000 Einwohner, oder wer glaubt, John Travolta und Jennifer Connelly hätten die Hauptrollen in Pretty Woman gespielt, der hat in diesem Punkt eine Fehlvorstellung, der glaubt etwas Falsches.
Wissen impliziert mithin nicht nur den Glauben, dass etwas der Fall ist (erste Bedingung des Wissens) – dies teilt das Wissen mit den Fehlvorstellungen -, sondern Wissen impliziert darüber hinaus immer auch Wahrheit (zweite Wissensbedingung neben weiteren), denn man kann nichts Falsches wissen. Man kann nicht wissen, dass John Travolta und Jennifer Connelly die Hauptrollen in Pretty Woman spielten. Man kann dies nur fälschlicherweise meinen oder glauben. Natürlich meinen manche, über ein Wissen zu verfügen, die nur etwas fälschlich glauben, und so zutiefst davon überzeugt, dass es sich bei ihrer Fehlvorstellung um Wissen handeln würde. Zu den Gründen für ihr Nicht-ablassen-Wollen von ihrem Glauben kommen wir gleich.
Vorstellungen über die Welt lassen sich nicht immer direkt anhand der Realität überprüfen, gleichwohl sind sie wahr oder falsch
Nun können wir aber nicht alles selbst überprüfen, ob es stimmt oder nicht. Überprüfungen geschehen immer a) anhand der Realität, der Wirklichkeit. Wahrheit hat immer einen Bezug zur Realität. Wo der verloren geht, lösen sich Menschen von der Wirklichkeit. Die Überprüfung an der Realität setzt aber voraus, dass Zugang zu dieser besteht. Das geht bei metaphysischen Spekulationen über einen Himmel, ein Paradies und überirdische Wesen etc. aber grundsätzlich nicht. Bei Fragen über das Universum als Ganzes ist das mindestens enorm schwierig.
Auch bei anderen Dingen, zum Beispiel manchen Verbrechen ist das schwierig, wenn es zum Beispiel keine Zeugen und kaum Indizien gibt. Manche Taten lassen sich dann niemals aufklären. Man hat zum Beispiel eine Leiche und die Obduktion ergibt, dass sie durch massive Gewalt zu Tode kam, man findet aber nie heraus, wer diesem Menschen diese Gewalt zufügte, wer ihn zu Tode brachte. Das heißt aber nicht, dass es keinen Mörder gibt, es heißt nur, dass wir nicht wissen, wer der Mörder war.
Wir haben also wahre und auch falsche Vorstellungen, ohne dass wir dies überprüfen, ohne dass wir die Vorstellung immer verifizieren oder falsifizieren können. Oft gelingt das, aber eben nicht immer. Gleichwohl ist auch in diesen nicht feststellbaren Fällen die eine Vorstellung wahr, die andere falsch. Wir wissen nur auf der Metaebene nicht, welches die richtige ist.
Das zweite Kriterium zur Überprüfung des Wahrheitsgehalts von Vorstellungen und Aussagen ist die Logik
Ferner werden solche Überprüfungen b) anhand der Logik durchgeführt. Die Logik ist die Lehre vom folgerichtigen Denken. So kann man beispielsweise Dinge widerlegen, wie etwa ein Polizist, Staatsanwalt oder Richter Aussagen von Zeugen oder des Verdächtigen beziehungsweise des Angeklagten widerlegen kann, wenn diese schon rein logisch nicht stimmen können und in sich widersprüchlich sind. Hier vergleichen wir also nicht Aussagen über die Wirklichkeit mit der Wirklichkeit selbst, sondern mit anderen Aussagen über die Wirklichkeit. Stoßen wir hier auf Widersprüche, ist klar, dass mindestens eine Aussage nicht stimmen kann.
Straftäter verwickeln sich übrigens sehr oft in Widersprüche, wenn man sie entsprechend geschickt und lange befragt. Wir können also Falschaussagen und Fehlvorstellungen oftmals auf die Schliche kommen, indem wir sie überprüfen, das heißt, mit der Wirklichkeit vergleichen (Wieso sind überall in der Wohnung Fingerabdrücke der Verdächtigen, wenn dieser vorgibt, die Wohnung niemals betreten zu haben?) und wenn wir sie mit anderen Aussagen abgleichen (logische Widersprüche in den Angaben oder Vorstellungen einer Person auffinden).
Durch Beweise ändert sich nicht die Realität, sondern unser Gewissheitsgrad i.B.a. die Richtigkeit unserer Vorstellung der Realität
Im Falle von John Travolta und Jennifer Connelly als vermeintliche Hauptdarsteller in Pretty Woman ist die Überprüfung und das Eruieren der Wahrheit noch relativ leicht möglich. Wir können uns den Film besorgen und nochmals anschauen, meinetwegen ältere Bilder von Travolta und Connelly aus dieser Zeit mitnehmen und die Gesichter vergleichen. Wir können im Abspann des Filmes die Namen der Darsteller lesen oder einfach bei wikipedia nachlesen, sofern wir diesem Glauben schenken wollen. Auf diese Weise können wir erfahren, es waren nicht John Travolta und Jennifer Connelly, sondern natürlich Richard Gere und Julia Roberts.
Es wären auch dann Richard Gere und Julia Roberts gewesen, wenn der Film nach vielen Jahrzehnten verschollen und alle Mitwirkenden bereits verstorben wären und wir keinerlei Zugriff mehr hätten, um die beiden Aussagen und Vorstellungen zu überprüfen. Derjenige, der glaubte, es seien John Travolta und Jennifer Connelly gewesen, der hätte in diesem Punkt gleichwohl eine Fehlvorstellung, auch wenn wir das nicht nachweisen könnten, weil wir keinen Zugriff mehr hätten auf den Film.
Und derjenige, der meinte, Richard Gere und Julia Roberts hätten die Hauptrollen gespielt, der hätte in diesem Punkt eine wahre Vorstellung, wenngleich wir den Beweis hierfür nicht antreten könnten. Ein wahrer Satz wird mithin nicht erst durch den Beweis seiner Richtigkeit wahr. Das war er zuvor schon. Wir konnten dessen nur nicht sicher sein. Was sich durch den Beweis ändert, ist nicht die Realität selbst, sondern nur unser Gewissheitsgrad in Bezug auf die Richtigkeit unserer Vorstellung von der Wirklichkeit.
Da wir nicht alles selbst überprüfen können, sind wir darauf angewiesen, anderen zu vertrauen
Im Falle der Einwohner von Deutschland geht das aber schon nicht mehr so leicht. Ich oder Sie können ja nicht hingehen und anfangen, alle Menschen, die in Deutschland leben, durchzuzählen. Ähnliches gilt für die Größe Australiens oder die des Universums, für die Gefährlichkeit des neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 oder die Wirtschaftswachstumsrate. Solche Dinge können wir selbst nicht kontrollieren. Auch bei der logischen Widerlegung von Gottesbeweisen dürften die meisten von uns überfordert sein. Hier sind wir darauf angewiesen, dass wir uns von anderen informieren lassen, den Beweis eventuell nachvollziehen. Das aber heißt, oftmals müssen wir uns entscheiden, wem wir vertrauen wollen und wem nicht, wem wir also Glaube schenken wollen.
Wer den Falschen vertraut, der lässt in sich, in seinem Geist respektive in seiner Seele, Fehlvorstellungen von der Welt erzeugen, was den Wert seines Geistes respektive seiner Seele sicher nicht gerade erhöht. Je mehr Mist jemand in sich aufnimmt, desto mehr verschandelt er sich quasi innerlich selbst.
Nicht wenige messen Vorstellungen mehr am „Geschmack“ denn an der Realität und der Logik
Wenn diese falschen Vorstellungen von der Welt aber sehr süß „schmecken“, wenn sie sich angenehm anfühlen, sind nicht wenige geneigt, die entsprechende Vorstellung eher am Geschmack als an der Realität und der Logik zu messen. Das Angenehme wird dann gleichsam dem Wahren vorgezogen. Wer umgekehrt den Richtigen vertraut oder glaubt, der lässt, sofern diese nicht gerade aus Versehen irren, was meist nicht völlig auszuschließen ist, in sich wahre Vorstellungen von der Welt erzeugen respektive erzeugt solche selbst auf Grund dessen, was man ihm zutrug, wenn er den Inhalt richtig aufnimmt und versteht, also kognitiv korrekt erfasst.
Ohne dieses Vertrauen geht es aber offensichtlich nicht, da man rein lebenspraktisch nicht permanent alles in Zweifel ziehen und nicht alles selbst überprüfen kann. Man wäre ja von morgens bis abends mit nichts anderem mehr beschäftigt. Das würde uns lebensunfähig machen. Wissen wird natürlich insbesondere von Fachleuten für ihr jeweiliges Gebiet generiert, daher auch der Ausdruck „Wissenschaft“.
Wissenschaftlicher Fortschritt statt pflegen angenehmer Vorstellungen
Auf diese Weise entsteht ein gesellschaftlicher Fortschritt, da Experten in ihrem Bereich Dinge erforschen, um so immer mehr Wissen, das heißt wahre Vorstellungen über die Welt zu erzeugen, wovon andere wiederum profitieren. Kaum einer, selbst der größte Zeit-Kritiker, würde mit einem durchschnittlichen Menschen von vor tausend, fünftausend oder zwanzigtausend Jahren tauschen wollen, egal wo auf der Welt und egal in welcher Gesellschaft. Dies könnte man als Indiz für Fortschritt ansehen, zumal wenn es Menschen gibt, die sich vor einem solchen Wechsel in die Zukunft viel weniger scheuen würden.
Was mit Gesellschaften passiert, die Philosophie und einzelwissenschaftliche Forschung systematisch unterdrücken, weil in ihnen massenhaft falsche Vorstellungen erzeugt wurden, welche vielen aber so gut „schmecken“ und welche den Mächtigen insofern nützlich sind, als sie anhand dieser Fehlvorstellungen, dieses Glaubens ihre Bevölkerung gut zusammenhalten und gut kontrollieren können, dass kann man hier nachlesen:
Wahrheit und Vernunft lassen sich nie dauerhaft unterdrücken („Wir schreiben den 8. November des Jahres 1723. Ein berühmter Professor der Philosophie, der wahrscheinlich größte Geist der Zeit, macht sich in Halle auf den Weg in seine Vorlesung. Da kommt ein Eilbote der Universität und händigt ihm ein Schreiben aus. Der Mann liest es und wird kreidebleich. Zeugen werden später behaupten, er habe sich erbrochen. Der Schreck fährt ihm in sämtliche Glieder. Kein Gedanke mehr an die Vorlesung, kein Gedanke mehr an seine Studenten. Sofort dreht er um und läuft wieder nach Hause. Der Inhalt des Briefes: eine Ungeheuerlichkeit, eine Schicksalsfrage für Europa …“).
Wer in anderen Vorstellungen über die Welt erzeugt, hat eine besondere Verantwortung, denen Scharlatane nicht gerecht werden
Wissen wird also zum Teil von Wissenschaftlern generiert und an die übrige Gesellschaft weitergegeben. So entsteht wissenschaftlicher, gesellschaftlicher, technischer, auch kultureller Fortschritt. Daraus erwächst eine hohe Verantwortung für diejenigen, die andere informieren – Wissenschaftler, Hochschullehrer, Lehrer, Medienschaffende -, dieses Vertrauen nicht zu missbrauchen. Jeder weiß, wie schwer es ist, ein einmal zerstörtes Vertrauensverhältnis wieder zu kitten. Umgekehrt erwächst daraus auch die Aufgabe für sich zu prüfen, wem man sein Vertrauen schenkt, dabei nicht auf Scharlatane hereinzufallen.
In diesem Sinne, passen Sie gut auf, was Sie nächstes Jahr in sich aufnehmen, wie Sie ihre Seele selbst formen und wem Sie vertrauen. Alles Gute für 2021!
Literaturempfehlung
Jürgen Fritz: Das Kartenhaus der Erkenntnis – Warum wir Gründe brauchen und weshalb wir glauben müssen, AV Akademikerverlag, 2. Aufl. 2012, EUR 68,00
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