Liberale Demokratie statt Tyrannei der Mehrheit

Von Jürgen Fritz, Do. 27. Feb 2020, Titelbild: tagesschau-Screenshot

Jede Verfassung hat einen verbindlichen Kernbestand, der nicht in Frage gestellt werden darf und nicht verhandelbar ist. Dieser Kernbestand kann nicht vom Volk per Mehrheitsentscheid abgewählt werden. Und wer diesen Kernbestand durch seine Gesinnung (schon die Einstellung reicht aus) oder Handlungen ablehnt, macht sich selbst automatisch zum Verfassungsfeind. In der liberalen (freiheitlichen) Demokratie gehören dazu insbesondere die universalen Menschenrechte, die Volkssouveränität (Demokratieprinzip), die Gewaltenteilung und die Rechtsstaatlichkeit. Das Demokratieprinzip und die Menschenrechte können in einer liberalen Demokratie also nicht demokratisch abgeschafft werden und nicht jeder, der in freien Wahlen gewählt wurde, ist deswegen schon ein liberaler Demokrat.

Die Gefahr einer Tyrannei der Mehrheit

Einer der ersten Demokratiekritiker, die die Gefahr einer Tyrannei der Mehrheit sahen, war der französische Publizist, Politiker, Historiker und Begründer der Vergleichenden Politikwissenschaft Alexis de Tocqueville (1805 – 1859). Tocqueville bereiste im Auftrag der französischen Regierung die USA mit seinem Freund Gustave de Beaumont. Aus der Amerikareise (von Mai 1831 bis Februar 1832) und den dort gemachten Erfahrungen resultiert das berühmte Hauptwerk De la démocratie en Amérique (Über die Demokratie in Amerika, zwei Bände, Paris 1835/1840). Tocqueville beschreibt insbesondere das Verhältnis von Gleichheit und Freiheit. Er sieht darin keine Prinzipien von gleicher Wichtigkeit, sondern spricht sich deutlich für den Vorrang der Freiheit (liberté) aus.

Die in einem aufgeklärten Staat entstehende formale Gleichheit der Bürger habe verschiedene Auswirkungen. Zunächst werde durch den Wegfall ständischer Ordnungen und durch die Rechtsgleichheit aller Bürger jener Raum geschaffen, den ein freiheitliches Individuum benötige. Der Wegfall von Autoritäten und die Unabhängigkeit der Menschen begründen jene Freiheitsliebe, die demokratische Gesellschaften und ihre Institutionen auszeichnet. Daraus könne aber leicht Anarchie, also die Abwesenheit jeglicher Herrschaft entstehen, so dass es nichts mehr gibt, was die Gesellschaft innerlich zusammenhält, meinten die Kritiker einer freiheitlich-demokratischen Ordnung.

Tocqueville widerspricht dem nicht, sieht darin aber nicht das Hauptproblem des Gleichheitsprinzips. Vielmehr fürchtet er eine schleichende Beeinträchtigung des Freiraums der Bürger: „Die Gleichheit löst nämlich zwei Tendenzen aus: die eine führt die Menschen geradewegs zur Freiheit und kann sie auch plötzlich in die Anarchie treiben; die andere leitet sie auf längerem, verschwiegenerem, aber sicherem Wege in die Knechtschaft.“ Während sich ein freiheitlich-demokratischer Staat gegen die Anarchie zu schützen weiß, ist die Abwehr des Verlusts individuellen Freiraums durch Gleichmacherei schwieriger, da diese sowohl den Neigungen der Masse der Bürger entspreche als auch dem Staat gelegen komme, der die Einzelnen so leichter lenken kann.

Die Gefahr eines übermächtigen sozialen Staates, der die Bürger zunehmend entmündigt

Für Tocqueville führt das Prinzip der Gleichheit tendenziell zu einem starken, zentralistisch organisierten Staat, gegen den sich das Individuum nicht mehr wehren könne (siehe heute die EU). Daraus entstehe eine grenzenlose „Volksgewalt“. Die Repräsentanten dieser Macht werden sich ihrer Gewalt allmählich bewusst und fördern diese Position aus Eigeninteresse (siehe insbesondere die SPD und die Linkspartei, auch die Grünen). Die Regierenden können schließlich „alle Vorgänge und alle Menschen verwalten“.

Für Tocqueville entsteht dadurch ein Transfer von Verantwortlichkeiten. Die Regierenden sehen ihre Aufgabe nun auch darin, den Bürger „zu leiten und zu beraten, ja ihn notfalls gegen seinen Willen glücklich zu machen. Umgekehrt übertragen die Einzelnen immer mehr ihre Selbstverantwortung auf die staatliche Gewalt. Letztlich befürchtet Tocqueville ein Abrutschen in die Unfreiheit, wenn die Gleichheit zum einzigen großen Ziel wird. Das Streben nach Gleichheit könne zu einer regelrechten Uniformisierung unter einer starken Zentralgewalt führen.

Diese, so die Gefahr, könne im Zuge des Strebens nach immer mehr Gleichheit (Homogenität) ihre eigenen Bürger, also den Souverän, mehr und mehr entmündigen, was seiner Würde (Selbstbestimmung) widerspricht. Dadurch aber wird der Einzelne immer mehr vom Handeln der jeweiligen Regierung abhängig. Auf diese Weise würden die Bürger des selbständigen Handelns entwöhnt und verlieren ihre Autonomie, auf welcher die liberale Demokratie, die mündige Bürger zur Voraussetzung hat, gerade aufbaut.

Nicht jeder, der demokratisch gewählt wurde, ist deswegen schon ein liberaler Demokrat

Entscheidend, ob jemand sich tatsächlich als liberaler Demokrat bezeichnen kann, ist also nicht, ob jemand in einem demokratischen Prozess gewählt wurde, als vielmehr seine innere Einstellung. In der freiheitlichen Demokratie stehen die universalen Menschenrechte, inklusive der Menschenwürde (Selbstbestimmung), die Gewaltenteilung, das Rechtsstaats- und das Demokratieprinzip selbst über demokratischen Mehrheitsentscheiden. Es ist also in der liberalen Demokratie nicht möglich, die Demokratie demokratisch abzuwählen. Dadurch raubte man ja auch den kommenden Generationen die Möglichkeit der Volkssouveränität, der Selbstbestimmung.

Auch die Menschenrechte können in einer liberalen Demokratie nicht abgeschafft werden und zwar die Menschen- und Freiheitsrechte aller, nicht nur die des eigenen Volkes oder die der eigenen Person („Ich liebe meine Freiheit“ – Egoist). Es gibt zwar kein Menschenrecht auf Migration, jeder Staat und jedes Volk kann mithin frei bestimmen, wen es in sein Staatsgebiet, das sein Eigentum ist, einreisen lässt und wen nicht, aber wer sich auf deutschem Territorium befindet, genießt zwar nicht die automatisch die Bürgerrechte, wohl aber die universalen Menschenrechte. Dazu gehört das Recht auf Leben, das Recht auf körperliche Unversehrtheit, die Freiheit von Folter usw.

Die ethisch-moralische Überlegenheit der liberalen Demokratie

Das heißt, die freiheitlich-demokratische Grundordnung kann nicht demokratisch abgewählt und durch zum Beispiel ein autoritäres Führerprinzip, das keine universalen Menschenrechte kennt, ersetzt werden. Wer das anstrebt und umsetzen möchte, ist ein Verfassungs-, damit ein Staatsfeind und darf, ja muss bekämpft werden. Aber selbst er, der Menschenrechte-abschaffen-Woller, verliert nicht die seinen. Bestimmte Rechte können ihm zeitweise, solange er eine Gefahr darstellt, entzogen werden, aber er bleibt ein Mensch. Selbst er, der andere entmenschlichen möchte, muss weiterhin human behandelt werden.

Das gilt auch für Rechtsextremisten (oder Islamisten), die das abschaffen wollen und in anderen Menschen bisweilen nur das Heterogene sehen, welches die anvisierte Homogenität des Volkes (oder der Glaubensgemeinschaft) und damit seine biologistisch definierte (oder metaphysisch-spekulativ-weltanschauliche) Identität gefährdet sehen. Hier zeigt sich die enorme ethisch-moralische Überlegenheit der liberalen, menschenrechtsbasierten Demokratie, die sogar die Feinde der Menschenrechte als Menschen sieht und behandelt, während diese mit ihren Feinden umgekehrt ganz anders verfahren würden, so sie denn könnten (oder können wie in der Türkei oder im Iran).

Jeder Rechtsextremismus baut letztlich auf einem primitiven Gruppenegoismus auf

Und das ist zugleich der tiefere Grund, warum den Rechtsextremisten so eine tiefe Verachtung von fast allen Seiten entgegen schlägt. Das hat mit den unterschiedlichen Moralen zu tun, die den jeweiligen Weltanschauungen zu Grunde liegen, die nicht auf einer Stufe stehen, sondern gewaltige Niveauunterschiede aufweisen.

Im Grunde hat der Rechtsextremismus überhaupt nicht so etwas wie eine ethisch auch nur irgendwie legitimierte Moral, die verallgemeinerbar wäre, also ein ethisches Prinzip, welches für alle gelten könnte. Bei Rechtsextremisten baut ähnlich wie bei einem vormodernen Clan im Grunde alles auf einem reinen Gruppenegoismus auf: „Gut ist, was dem eigenen Volk (Clan) nutzt.“ Eine andere ethische Metaregel kann ich hier zumindest nicht erkennen. Wenn das aber der höchste Grundsatz ist,„Gut ist, was dem eigenen Volk nutzt“, dann kann mit Volksfeinden im Innern ALLES gemacht werden. Alles (!), wenn es nur dem Volk dient.

Und außenpolitisch ist damit der Krieg vorprogrammiert. Der Krieg nicht zur Abwehr eines Angriffs, nicht um ein Unrechtsregime irgendwo zu stürzen, welches sein eigenes Volk massakriert (also die Menschenrechte von hunderttausenden oder gar Millionen Menschen mit Füßen tritt), sondern der Krieg einfach zu dem Zweck, dem anderen wegzunehmen, was man selbst haben möchte, siehe die Annexion der Krim durch Russland, wenn es nur dem eigenen Volk nutzt.

In einer freiheitlichen Demokratie genießen Minderheiten Schutz und sind nicht der Tyrannei der Mehrheit ausgeliefert

Die liberale Demokratie ist dagegen an universalen Prinzipien ausgerichtet, nicht an einem Gruppenegoismus. Das heißt natürlich nicht, dass eigene Interessen nicht legitim wären oder die Interessen anderer über den eigenen stünden. Aber die berechtigten Interessen anderer dürfen eben nicht vollkommen ausgeblendet werden oder nur insoweit Berücksichtigung finden, als sie wiederum einem selbst nutzen (kluger, weitsichtiger Egoismus: eine Hand wäscht die andere – ich helfe jetzt dem anderen, weil er dann später auch mir helfen wird, so dass ich einen Vorteil davon habe. Ansonsten aber helfe ich keinem.)

In der liberalen (freiheitlichen) Demokratie stehen vor allen Dingen die Menschen- und Bürgerrechte, die Gewaltenteilung, die Volkssouveränität, das Rechtsstaatsprinzip über dem demokratischen Mehrheitsentscheid, über der Herrschaft des Volkes, über der Tyrannei der Mehrheit. Das Volk kann in einer liberalen Demokratie also nicht Dinge beschließen, die den Grundrechten widersprechen (Minderheitenschutz), zum Beispiel die AfD verbieten, nur weil die weit überwiegende Mehrheit sie schrecklich und schädlich findet, oder den Kindesmissbrauch legalisieren, wenn die Pädophilen irgendwann in der Mehrheit wären, eine metaphysisch spekulative Sekte könnte nicht beschließen, alle umzubringen, die sich ihr nicht anschließen, nur weil sie in der Mehrheit sind. Demokratisch wären solche Beschlüsse schon, wenn die Mehrheit es will, aber eben nicht liberal.

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